Apeirogon

Apeirogon ist ein Polygon mit unendlich vielen Seiten, man könnte sagen ein sehr assoziatives Gebilde, ein sehr assoziativer Körper, der immer noch einen Aspekt eröffnet. Dass darin auch Picasso zitiert wird, erstaunt nicht. Wunderschön wie auch in der Musik ganz andere Töne und Klänge entdeckt werden, bei Cage natürlich, aber auch wenn Planierraupen überraschend nicht brutal und hart, sondern sanft und schnurrend klingen.
Und vielleicht ist es ja auch so, dass Gedanken unsere inneren Klänge sind. Und die sind nicht einfach unsere eigenen, sondern kommen immer wieder von woanders her.

409
«Bei mir ist ein Bild die Summe von Zerstörungen. Ich mache ein Bild – dann zerstöre ich es. Dennoch geht am Ende nichts verloren: Das Rot, das ich an einer Stelle zugebe, taucht an einer anderen wieder auf.»
Picasso

Dazu ein Zitat von James Joyce aus Finnegans Wake
«And he war»


389
Die Partitur von John Cages Musikstück 4’33’’ enthält statt Noten nur die Anweisung Tacet.


388
Tacet: Das heisst, die Musiker sollten während der gesamten vier Minuten und dreiunddreissig Sekunden nicht einen Ton spielen.

387
Die Idee zu der Komposition kam Cage 1948. Kurz vorher hatte er sich in die absolute Stille eines schalltoten Raums begeben und sich ausserdem mit einigen neuen Gemälden seines Freundes Robert Rauschenberg beschäftigt: riesige, komplett weisse Leinwände, deren Oberflächen sich nur in der Brechung des Lichts voneinander unterschieden.
Die Erfahrungen der Leere, des stillen Raums und seiner Überlegungen zum Wesen von Klang verbanden sich, als Cage in einem Fahrstuhl der Musikberieselung lauschte.
Ursprünglich hatte er die Absicht gehabt, eine typische Fahrstuhlmusik zu komponieren und sie Stilles Gebet zu nennen.

384
Teilt man den Tod durch das Leben erhält, man einen Kreis.

383
Cage ging es in seinem Stück nicht nur um Stille, sondern auch um die Geräusche, die in der Stille zu hören sind: unruhige Füsse, ein Räuspern, ein Husten, eine huschende Maus unter dem Bühnenboden, Regentropfen auf dem Dach, eine schlagende Tür, ein hupendes Auto, ein dröhnendes Flugzeug über dem Konzertsaal.
Cage begeisterte sich für die Aleatorik, ein Verfahren, bei dem der Komponist der Musik eine vorläufige Richtung gibt, ihren endgültigen Verlauf aber den Verbindungen überlässt, die von den Interpreten, dem Publikum oder sogar von den Geräuschen selbst während der Aufführung erzeugt werden.
Diese Zufallselemente führen dazu, dass jedes selbständige Teilchen, jeder Ton und auch jeder Nicht-Ton dem nächsten etwas Geheimnisvolles verleiht.

381
Am Abend der Uraufführung von 4’33’’ wartete das Publikum in einer umgebauten Scheune bei Woodstock, New York, darauf, dass der Pianist David Tudor den ersten Ton spielte.
Das Stück bestand aus drei Sätzen – der erste dauerte dreiunddreissig Sekunden, der zweite zwei Minuten vierzig und der dritte eine Minute zwanzig.
Tudor zeigte Beginn und Ende jedes Satzes durch das Schliessen und Öffnen des Klavierdeckels an.
Nach viereinhalb Minuten erhob er sich, ohne eine Taste berührt zu haben, von seinem Klavierhocker und verbeugte sich.
Anfangs drang verunsichertes Lachen aus dem Publikum. Dann begannen ein, zwei Leute zu klatschen, andere stimmten ein, und schliesslich ging tosender Applaus durch die Scheune.

380
Nach der Premiere sagte Cage, die ersten dreiunddreissig Sekunden sollten so betörend sein wie die Form und der Duft einer Blüte.

294
Blume meiner Phantasie, ich hütete sie in meinem Herzen.

285
Im Winter 2008 fuhr Dalia el-Fahum fast täglich mit dem Fahrrad von Bethlehem durchs Kidrontal, um Naturgeräusche für ihre Dissertation aufzunehmen.
Dalia fiel auf in Bethlehem – fast eins neunzig, das dunkle Haar zu einem festen Knoten gebunden, über der Stirn eine silberne Strähne.
Sie radelte, mit Kopftuch und in züchtiger westlicher Kleidung, vom Stadtrand bis in die trockenen Hügel jenseits des Tals, oft über dreissig Kilometer.
Manchmal wurde Dalia unterwegs von patroullierenden Polizisten angehalten. Wenn sie mit ihnen sprach, beugte sie die Knie und nahm eine krumme Haltung ein, damit sie kleiner wirkte, weniger bedrohlich. Sie sammle Geräusche für ein Musikprojekt, erklärte sie. Die Soldaten wollten die Aufnahmen hören. Rauschendes Wasser, das Bellen eines wilden Hundes, das Rascheln von Natsch-Disteln im Wind, die Rufe vorbeiziehender Vögel.
Zweimal wurde ihr das Gerät komplett auseinandergenommen, einmal sogar beschlagnahmt. Der Polizist, der es konfisziert hatte, lieferte es am Abend kleinlaut im Dorf ihrer Eltern ab, ohne Batterien.

283
Dalia beschäftigte sich mit dem französischen Komponisten Olivier Messiaen, ein Freund von John Cage, der Vogelstimmen aufgenommen und in Notenschrift transkribiert hatte. Besonders interessierte sie sich für sein Klavierstück Catalogue d’Oiseaux. Sie wollte es mit ihren im Westjordanland aufgenommenen Geräuschen mischen und daraus ein achtstündiges elektronisches Musikstück mit dem Titel Wanderungen machen.
Eines Morgens, Dalias Projekt war halb abgeschlossen, zerrissen in einem Dorf, zwölf Kilometer ausserhalb Bethlehems Planierraupen die Stille. Sie hatte auf ihren Exkursionen schon öfter welche erspäht und unten an der Hauptstrasse die Warnlichter gesehen, aber noch nie war sie so nah dran gewesen.
Aus dem Gebüsch beobachtete sie, wie der Tross einen Olivenhain zerstörte. Sonnenlicht fiel auf die silbrig schimmernden Blätter, als die Bäume aus der Erde gerissen wurden.
Dalia robte bis auf etwas fünfzig Meter heran, hielt das Mikro ihres Sony-Digitalrekorders in Richtung des Lärms und drückte auf Aufnahme.

282
Forscher vom Institut für Angewandte Physik der Universität Bonn haben herausgefunden, dass Pflanzen und Bäume Gase abgeben, wenn sie sich bedroht fühlen. Die Gase erzeugen Schallwellen, die nur mit Hilfe von Laserlicht und einem photoakustischen Sensor hörbar gemacht werden können.
Pflanzen, so die Wissenschaftler, stossen wimmernde Laute aus, wenn man ihre Blätter abschneidet. Bäume warnen sich gegenseitig vor nahenden Insektenschwärmen, und der Duft von frisch gemähtem Gras stammt von Pheromonen in den Halmen.
Ausgangspunkt für ihre Forschungen waren die Erkenntnisse eines anderen Wissenschaftlerteams, das in Pflanzen Dopamin, Serotonin und weitere Neurotransmitter entdeckt haben, obwohl ihr reizleitendes System weder über Nervenzellen noch über Synapsen verfügt.

281
Ein im Kampf verwundeter Soldat wird im Funkverkehr der israelischen Armee als Blume bezeichnet.

276
Als Dalia sich die Aufnahmen später im Tonstudio der Universität anhörte, klangen die Planierraupen viel sanfter als in ihrer Erinnerung. Überhaupt nicht maschinell, eher wie ein schnurrendes Tier, das sich langsam den Hang hinaufbewegt.
Dalia war enttäuscht. Sie hatte auf etwas Brutaleres gehofft, aufreissenden Boden, brechende Wurzeln, fallende Erde, vielleicht sogar auf ein gespenstisches Stöhnen der Bäume.
Sie hantierte mit den Reglern, schnitt die Stellen heraus, wo die Motoren ärter, rauer klangen. Dazu den Ruf eines Soldaten, das Heulen einer Sirene, das Piepen beim Zurücksetzen der Planierraupen, doch einzeln klangen die Geräusche merkwürdig, sogar komische. Als sie die Sequenzen zusammenfügte, fand sie das Ergebnis erbärmlich.
Sie wandte sich wieder dem Rohmaterial zu. Der ferne Ruf eines Kuckucks. Eine Maus im raschelnden Unterholz. Ihre eigenen Schritte im Gras.
Das hatte etwas von Musik. Sie überlegte, die Geräusche mit Vogellauten aus älteren Aufnahmen zu kombinieren, bis iher nach langem Nachdenken klar wurde, dass es ihr nicht um die Planierraupen, die Olivenbäume oder die surrenden Warnlichter ging, sondern um Stille.

384
«Teilt man das Leben durch den Tod, erhält man einen Kreis.»

«Die Neurose ist sozusagen das Negativ der Perversion.» (Freud, 1905d, SA V, S. 74)

Tausendundeine Nacht

Eines Nachmittags, in einem Suq in der Al-Zahra-Strasse, erklärte Borges seinen Zuhörern, man könnte Tausendundeine Nacht mit einer Kathedrale oder einer herrlichen Moschee vergleichen; vielleicht sei das Buch sogar noch phantastischer, weil die Urheber oder Schöpfer, anders als die Bauherren von Gotteshäusern, nicht gewusst hätten, dass sie zur Entstehung eines grossen Werks beitrugen. Ihre Geschichten seien zu unterschiedlichen Zeiten zusammengetragen worden, an unzähligen Orten, Bagdad, Damaskus, Ägypten, Indien, Tibet, auf dem Balkan und aus verschiedenen Quellen, den Jasako-Erzählungen und der Katha Surit Sagara. Dann habe man sie wiederholt, sie abermals verändert und durch die Generationen weitergegeben.

Anfangs, sagte Borges, hätten die Geschichten unabhängig voneinander existiert, dann seien sie zusammengefügt worden und hätten sich gegenseitig Kraft gegeben, eine unendliche Kathedrale, eine wachsende Moschee, durch und durch ein Produkt des Zufalls.

Borges nannte das schöpferische Untreue. Die Zeit zeige sich in der Zeit innerhalb einer anderen Zeit.

Das Buch, sagte er, sei so unerschöpflich und gewaltig, dass man es gar nicht zu lesen brauche, es habe sich tief ins unbewusste Gedächtnis der Menschheit eingegraben.

Zitat aus Apeirogon von Colum McCann, Rowohlt, 2023, S. 72f.



Schöpferische Untreue, das ist der Verrat, den der Traum immer begeht, das ist der Verrat, den der Traum immer schon als Geheimagent begeht, der ja nicht anders kann als Doppelagent zu sein. Er kann nicht anders als sich ständig zu verraten und damit den anderen, der ja immer Teil von sich selbst ist. Das ist diese ständige Umarbeitung, die vor allem eines ist: Dekonstruktion und natürlich auch Dekonstruktion der Zeit. So wunderschön wie es heisst: Die Zeit zeigt sich in der Zeit innerhalb einer anderen Zeit. Das unterstreicht wiederum, dass die Zeit eben nicht mit sich identisch ist, dass sie Differenz ist, dass sie das ist, was macht, dass die Dinge nicht zusammenfallen. Aber auch die Dinge sind nicht mit sich identisch, sie sind gebrochen, sie sind Auf- und Untergang des Wunsches. Sie sind Verwerfungen und deshalb verworfen und verwerflich, sowohl auf die Seite der Verheissung hin wie auch auf die des Schreckens und der Zerstörung. Und deshalb, weil sie nicht mit sich identisch sind, haben sie nicht nur eine Seite, auch nicht nur zwei, sondern eine andere in dem Sinn, dass diese andere eine immer wieder andere sein kann und ist, so wie es bei der Negation, bei diesem "Nein", das der Analytiker seinem Analysanden sagt, nicht darum geht, dass er nicht die Mutter, nicht der Vater ist, nicht das Objekt in dem Sinne ist, dass er nämlich der Analytiker ist, sondern dass es darum geht, dass er damit gleichzeitig sagt, dass er es eben doch ist, dass er eben nicht einfach nur der Analytiker ist, sondern als dieser immer wieder jemand anderer, dass er das Objekt, an dessen Stelle er positioniert ist, eben ist und nicht ist und dass dieses Spiel nicht nur zwei Seiten hat, sondern immer noch eine mehr, dass es viele Seiten hat. Das ist das, was Apeirogon meint: Ein geometrisches Objekt, das unendlich viele Seiten hat. Weshalb es auch keine praktische Darstellung im physischen Raum hat, sondern eben anders dargestellt werden muss. Das ist Aufgabe der Kunst, das ist Aufgabe des Traums – hier realisiert in diesem Buch von Colum McCann.

HABEN MASCHINEN EIN HERZ?

Klara ist das KF von Jossie – ein beinahe schon menschliches Wesen mit künstlicher Intelligenz. Jossie hat sie in einem Laden ausgewählt, weil Klara ihr gefiel und entsprach. Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass Jossie an einer schweren Krankheit, an der viel früher eine Schwester von ihr schon gestorben ist. Nun gibt es verschiedene Versuche, den drohenden Verlust zu verhindern.

Nach einem Besuch bei einem Porträtisten sind Klara und der Vater von Jossie unterwegs im Auto.



Auszug aus dem Buch:


Licht- und Schattenmuster bewegten sich über uns hinweg, bis wir aus dem Unterbrückenareal wieder herauskamen und an einer breiten Strasse mit hohen braunen Gebäuden auf beiden Seiten warten. Wir kamen an einem umfangreichen Wesen mit mehreren Gliedmassen und Augen vorbei, und während ich es beobachtete, ging ein Riss senkrecht durch seine Mitte und es teilte sich, und erst jetzt erkannte ich, dass es die ganze Zeit schon zwei einzelne Leute gewesen waren – ein Läufer und eine Hundeleinenperson –, die in entgegengesetzte Richtungen unterwegs waren und einander zufällig in dem Moment passierten. Es folgte ein Laden mit dem Schild «Zum-Hier_Essen und Mitnehmen», und davor lag eine verlorene Baseballmütze auf dem Gehsteig.

«Wolltest du nicht irgendwo speziell hin?» fragte der Vater. «Josie hat was über denen früheren Laden gesagt. Dass wir heute dran vorbeigefahren sind.»

Kaum hatte ich dies gehört, erkannt ich die Chance, die sich dahinter verbarg, und rief, vielleicht etwas zu laut: «O ja!» Ich hatte mich aber gleich wieder unter Kontrolle und fügte leise hinzu: «Das wäre wirklich sehr schön. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.»
«Sie sagte, dass dein Laden vielleicht gar nicht mehr da ist. Dass er womöglich umgezogen ist.»
«Ich bin nicht sicher. Trotzdem – es würde mich sehr glücklich machen, wenn Mr. Paul uns in die Gegend bringen könnte.»
«Gut. Wir müssen sowieso Zeit totschlagen.»

An der nächsten Kreuzung bog er rechts ab, und währenddessen sagte er: «Ich frag mich, wie Chrissie wohl zurechtkommt. Worüber die zwei jetzt reden. Vielleicht hat sie’s geschafft das Thema zu wechseln.»

Der Verkehr war dichter geworden, und wir fuhren langsam inmitten der anderen langsamen Fahrzeuge. Die Sonne zeigte sich manchmal, aber sie stand schon recht tief, und die hohen Gebäude versperrten ihr oft die Sicht. Die Gehsteige waren voller Büroarbeiter am Ende eines Arbeitstags, und wir kamen an einem Mann auf einer Leiter vorbei, der etwas an einem glänzend roten Schild mit der Aufschrift «Grillhähnchen» machte. Die Fussgängerübergänge und Abschleppzonenschilder zogen vorüber, und ich spürte, dass wir uns dem Laden näherten.

«Kann ich dich was fragen?», sagte der Vater.
«Ja, natürlich.»
«Ich denke, dass Josie noch weitgehend im Dunkeln tappt. Aber du? Wie viel hast du schon vorher vermutetet? Wie viel heute erfahren? Würde es dir was ausmachen, mir zu sagen, was du weisst?»
«Vor dem heutigen Besuch bei Mr. Capaldi», sagte ich, «hatte ich den einen oder anderen Verdacht, aber vieles war mir auch völlig unbekannt. Jetzt, nach dem Besuch, kann ich Mir. Pauls Unbehagen verstehen. Und ich verstehe auch seine anfängliche Kälte mir gegenüber.»
«Dafür entschuldige ich mich noch einmal. Sie haben dir also alles erklärt. Welche Rolle du bei der ganzen Sache spielst.»
«Ja. Ich glaube, sie haben mir alles gesagt.»
«Und was denkst du? Meinst du, dass du es hinkriegst? Diese Rolle zu übernehmen?»
«Es wird nicht leicht sein. Aber ich glaube, wenn ich Josie weiter aufmerksam beobachte, liegt es inerhalb meiner Fähigkeiten.»

«Dann lass mich noch was anderes fragen. Folgendes nämlich. Glaubst du an das menschliche Herz? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ, sondern spreche im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas, das jedes Individuum besonders und einmalig macht? Aber nehmen wir einfach mal, dass es so ist. Meinst du dann nicht, dass du nicht nur ihre Eigenheiten erfassen müsstest, sondern ihr tiefstes Inneres, um Josie wirklich zu lernen? Müsstest du nicht lernen, was ihr Herz ist?»
«Doch, sicher.»
«Und das könnte doch schwierig sein, oder? Etwas, das sogar deine grandiosen Fähigkeiten übersteigt. Denn eine Verkörperung würde nicht ausreichen, wie perfekt sie auch sein mag. Du müsstest dir ihr Herz erschliessen, und zwar vollkommen, sonst kannst du niemals in irgendeinem signifikanten Sinn Josie werden.»

Ein öffentlicher Bus war neben einigen verlassenen Obstkästen stehen geblieben. Als der Vater ausscherte, um ihn zu umrunden, gab das Auto hinter uns ärgerliche Hupgeräusche von sich. Kurz darauf ertönte weiteres ärgerliches Huper, das aber weiter entfernt und nicht gegen uns gerichtet war.

«Das Herz, von Sie sprechen», sagte ich. «Das könnte tatsächlich das Schwierigste sein, das ich zu lernen habe. Es könnte wie ein Haus mit vielen Räumen sein. Trotzdem denke ich, dass eine eifrige KF im Lauf der Zeit jeden einzelnen Raum getreten und einen nach dem anderen erkunden und kennenlernen könnte, bis sie alle wie ihr eigenes Zuhause werden."

Der Vater hupte seinerseits ein Auto an, das sich aus einer Seitenstrasse in den Verkehr einzufädeln versucht.

«Aber mal angenommen, du betrittst einen solchen Raum», sagte er, «und entdeckst darin einen weiteren Raum. Und in diesem weiteren Raum ist wieder einer. Lauter Räume in Räumen in Räumen. Könnte es nicht dich auch so sein, wenn du versuchst dir Josies Herz zu erschliessen? Dass du – egal, wie lang du durch die ganzen Räume wanderst – immer und immer weitere entdeckst, in denen du noch nicht warst?»

Darüber dachte ich einen Moment nach, dann sagte ich: «Natürlich ist ein menschliches Herz komplex, zwangsläufig. Aber es muss auch begrenzt sein. Selbst wenn Mr. Paul im poetischen Sinn spricht, muss das Erlernbare endlich sein. Natürlich kann Josies Herz einem unbekannten Haus mit Räumen in Räumen ähneln. Aber ich bäbe mein Äusserstes, wenn dies der beste Weg wäre, um Josie zu retten. Und ich glaube, die Chancen, dass es mir gelingt, stehen gut.»
«Hmm.»

Eine Weile fuhren wir schweigend. Als wir an einem Gebäude, an dem «Nagelboutique» stand, und unmittelbar danach an einer Reihe sich abschälender Plakate vorbeikamen, sagte er: «Josie hat gesagt, dass dein Laden irgendwo hier in diesem Bezirk ist.»

Das mochte so sein, doch war mir die Umgebung noch ganz unvertraut. Ich sagte: «Mr. Paul hat sehr offen gesprochen. Vielleicht würde er mir im Gegenzug erlauben, ebenso offen zu sprechen.»
«Nur zu.»
«Mein früherer Laden ist nicht der wahre Grund, weshalb ich so gern in diesen Bezirk fahren wollte.»
«Nein?»
«Auf der Fahrt in die Stadt kamen wir nicht weit von dem Laden an einer Maschine vorbei. Sie wurde von Instandsetzern benutzt, und sie erzeugte eine entsetzliche Umweltbelastung.+
«Okay …. Sprich weiter.»
«Es ist nicht leicht zu erklären. Aber es ist sehr wichtig, dass Mr. Paul glaubt, was ich ihm jetzt sage. Diese Maschiine muss vernichtet werden. Das ist der wahre Grund, warum ich hierherkommen wollte. Die Maschine muss irgendwo in der Nähe stehen. Sie ist leicht zu identifizieren, weil an ihrem Gehäuse der Name ‘Cootings’ steht. Sie hat drei Schornsteine, und jeder stösst eine entsetzliche Umweltbelastung aus.»
«Und Du willst jetzt diese Maschine finden?»
«Ja. Und vernichten.»
«Weil sie eine Umweltbelastung verursacht.»
«Es ist eine schreckliche Maschine.» Ich beugte mich vor und hielt schon nach rechts und links Ausschau.

«Und wie genau planst du, sie zu vernichten?»
«Das weiss ich nicht genau. Deswegen wollte ich Mr. Paul gegenüber offen sprechen. Ich erbitte seine Hilfe. Mr. Paul ist ein erfahrender Ingenieur und ausserdem Erwachsener.»
«Du fragst mich, wie man mutwillig eine Maschine zerstört?»
«Erst müssen wir sie finden. Könnten wir zum Beispiel bitte in diese Strasse einbiegen?»
«Das geht nicht, Einbahn in die falsche Richtung. Also, ich kann Umweltverschmutzung so wenig leiden wie du. Aber geht das nicht ein bisschen zu weit?»
«Ich bin ausserstande, mehr zu erklären. Mr. Paul muss mir vertrauen. Wenn wir nur die Cootings-Maschine finden und vernichten können, dann glaube ich, wird das zu Josies vollständiger Gesundung führen. Dann wäre alles andere egal. Mr. Capaldi und sein Portrait und wie gut ich imstande bin, Josie zu lernen.»

Der Vater dachte darüber nach. «Also schön», sagte er schliesslich. «Versuchen wir’s zumindest. Dieses Ding hast du zuletzt wo gesehen?»
Wir fuhren weiter herum, und ich entdeckte das RPO-Gebäude – mit dem Feuerleiterhaus –, das sich rasch näherte. Hinter diesen Gebäuden sank die Sonne in der bekannten Weise, und dann kamen wir am Laden selbst vorbei. Wieder sah ich die Auslage mit den farbigen Flaschen und das Einbaubeleuchtungsschild, aber ich war so besorgt, ich könnte die Cootings-Maschine verpassen, dass ich kaum hinschaute. Als wir den Fussgängerübergang überquerten, sagte der Vater: «Das ist anscheinend eine Strasse für Taxis. Schau dir das an. Überall.»
«Vielleicht hier abbiegen. Bitte, wenn es geht.»

Die Cootings-Maschine stand nicht mehr da, wo ich sie zuvor gesehen hatte, die Strassen wurden wieder fremd, und ich blickte in alle Richtungen. Die Sonne leuchtete manchmal hell durch die Lücken zwischen Gebäuden, und ich überlegte, ob sie mich ermutigen wollte oder ob sie einfach beobachtete, wie ich vorankam. Als wir um eine weitere Ecke bogen und wieder keine Spur von der Cootings-Maschine entdeckten, sah man mir die wachsende Panik vielleicht an, denn der Vater sagte in einem freundlicheren Ton, als er mir gegenüber je angeschlagen hatte: «Du glaubst das wirklich, oder? Dass es Josie hilft?+
«Ja. Ja, ganz bestimmt.»

Eine Veränderung schien in ihm vorzugehen. Er beugte sich vor und blickte, wie ich, nach links und nach rechst mit dringenden Augen.
«Hoffnung», sagte er. «Verdammtes Ding, das einen nie in Frieden lässt.» Er schüttelte fast verbittert den Kopf, aber es war jetzt eine neue Kraft in ihm. «Okay. Ein Fahrzeug, sagst du. Benutzt von Bauarbeitern.»
«Es hat Räder, ist aber, glaube ich, kein Fahrzeug im eigentlichen Sinn. Es muss überallhin gezogen werden. An seinem Gehäuse steht ‘Cootings’, und es ist hellgelb.»

Er blickte auf die Uhr. «Die Bauarbeiter sind vielleicht für heute fertig. Lass mich ein paar Sachen versuchen.»

Der Vater begann geschickter zu manövrieren. Wir liessen die anderen Fahrzeuge, die Vorbeigehenden, die Geschäftsfassaden hinter uns und befuhren die kleineren Strassen im Schatten fensterloser Gebäude und hoher Wände, die mit bunten Cartoonbuchstaben bemalt waren. Manchmal blieb der Vater stehen, wendete und steuerte langsam durch enge Passagen neben Maschendrahtzäunen, jenseits derer wir parkende Lkw und schmutzige Autos sahen.

«Siehst du was?»

Immer wenn ich den Kopf schüttelte, liess er den Wagen wieder einen Satz nach vorne machen, sodass ich fürchtete, wir könnten einen Hydranten treffen oder beim scharfen Abbiegen eine Hausecke streifen. Wir blickten in weitere Innenhöfe, und einmal fuhren wir zwischen zwei schief geöffneten Torflügeln hindurch, obwohl an dem einen ein Schild mit der Aufschrift hing, und dann durch einen Innenhof voller Fahrzeuge und gestapelter Kisten und mit einem Baukran am anderen Ende. Aber noch immer war keine Cootings-Maschine in Sicht, und der Vater brachte uns jetzt in ein Schattenviertel mit geborstenen Gehsteigen und einsamen Vorbeigehenden. Wieder bog er in eine enge Gasse zwischen einem hoch aufragenden Etagen-zu-vermietenden-Gebäude, und dahinter war ein weiterer maschendrahtumzäunter Hof.

«Da! Mr. Paul, da ist sie!»

Der Vater trat jäh auf die Bremse. Weil der Hof auf meiner Seite war, drückte ich den Kopf direkt an die Scheibe, und hinter mir drehte sich der Vater im Sitz, um besser zu sehen.

«Die da? Mit den Auspuffrohren?»
«Ja. Wir haben sie gefunden.»

Ich liess die Cootings-Maschine nicht aus den Augen, während der Vater das Auto langsam wendete. Dann hielt er wieder an.

«Die Haupteinfahrt ist mit einer Kette abgesperrt», sagte er. «Aber der Nebeneingang …»
«Ja, der kleine Eingang ist offen. Ein Vorhergehender könnte zu Fuss eintreten.»

Ich löste den Sicherheitsgurt und war im Begriff auszusteigen, doch der Vater legte mir die Hand auf den Arm.

«Ich würde nicht da hineingehen, bevor du nicht sicher weisst, was genau du vorhast. Es sieht zwar alles ziemlich marode aus, aber man kann nie wissen. Es könnte eine Alarmanlage installiert sein, eine Videoüberwachung. Du hast vielleicht keine Zeit, um herumzustehen und nachzudenken.»
«Ja, da haben Sie recht.»
«Bist du ganz sicher, dass es die richtige Maschine ist?»
«Ganz sicher. Ich kann sie von hier aus deutlich sehen, und es besteht kein Zweifel.»
«Und sie betriebsunfähig zu machen, sagst du, wird Josie helfen?»
«Ja.»
«Wie willst du das anstellen?»

Ich starrte auf die Cootings-Maschine, die fast in der Mitte des Hofs stand, getrennt von den übrigen geparkten Fahrzeugen. Die Sonne fiel zwischen zwei Silhouettengebäuden hindurch, die in einigem Abstand den Hof überragten. Ihre Strahlen wurden momentan von keinem der beiden Gebäude blockiert, und die Kanten der geparkten Fahrzeuge schimmerten.
«Ich fühle mich sehr dumm», sagte ich endlich.
«Nein, es ist wirklich nicht so einfach», sagte der Vater. «Und zu allem Überfluss würde dein Vorhaben als Sachbeschädigung gewertet, und das ist strafbar.»
«Ja. Aber wenn die Leute in den hohen Fenstern dort drüben zufällig etwas mitbekämen, wären sie bestimmt froh, dass die Cootings-Maschine vernichtet wird. Sie wissen ja sicher, was das für eine schreckliche Maschine ist.»
«Kann schon sein. Aber wie willst du es anstellen?»

Der Vater lehnte sich jetzt im Sitz zurück, einen Arm ganz entspannt auf das Lenkrad gelegt, und ich hatte den Eindruck, dass er bereits zu einer möglichen Lösung gelangt war, sie aber aus irgendeinem Grund noch nicht verraten wollte.

«Mr. Paul ist ein erfahrener Ingenieur», sagte ich, drehte mich zu ihm und sah ihn direkt an. «Ich hatte gehofft, dass ihm etwas einfiele.»

Der Vater aber blickte durch die Frontscheibe in den Hof.

«Vorhin im Café konnte ich es Josie nicht erklären», sagte er. «Ich konnte ihr nicht erklären, warum ich diesen Capaldi derart hasse. Warum ich mich nicht überwinden kann, wenigstens höflich zu sein. Aber ich würde gern versuchen, es dir zu erklären, Klara. Wenn es dir nichts ausmacht.»

Der Themenwechsel war höchst unerwünscht, aber um sein weiteres Wohlwollen nicht aufs Spiel zu setzen, sagte ich nichts, sondern wartete.

«Ich glaube, ich hasse Capaldi, weil ich im Grunde meines Herzens den Verdacht habe, er könnte recht haben. Es könnte stimmen, was er behauptet. Nämlich, dass die Wissenschaft inzwischen zweifelsfrei bewiesen hat, dass an meiner Tochter nichts so einmalig ist, dass da nichts ist, was unser modernes Instrumentarium nicht extrahieren, kopieren, transferieren könnte. Dass wir die ganze Zeit, viele Jahrhunderte lang, unter einer falschen Voraussetzung miteinander gelebt und einander geliebt und gehasst haben. Einer Art Aberglauben, an dem wir festgehalten haben, weil wir’s eben nicht besser wussten. So sieht es Capaldi, und ein Teil von mir fürchtet, er hat recht. Chrissie hingegen ist anders als ich. Sie weiss es noch nicht, aber sie wird sich niemals überzeugen lassen. Sollte je der Zeitpunkt kommen … Egal, wie perfekt du deine Rolle spielst, Klara, egal, wie sehr sich Chrissie wünscht, dass es klappt – sie wird es nie hinnehmen können. Sie ist zu … altmodisch. Auch wenn sie weiss, dass sie sich gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Mathematik stellt. Sie wird es nicht hinkriegen. Sie wird sich niemals so verbiegen können. Ich bin da anders. Ich habe … eine Art Kälte in mir, die ihr fehlt. Vielleicht liegt es daran, dass ich ein erfahrender Ingenieur bin, wie du sagst. Deswegen fällt es mir so schwer, gegenüber Leuten wie Capaldi höflich zu sein. Wenn sie so reden, wie sie reden, wenn sie tun, was sie tun, dann ist das für mich so, als nähmen sie mir, was ich für das Kostbarste im Leben halte. Drücke ich mich verständlich aus?»

«Ja. Ich verstehe Mr. Pauls Gefühle.» Ich liess ein paar stille Sekunden verstreichen und fügte dann hinzu: «Nach allem, was Mr. Paul sagt, scheint es mir umso wichtiger, dass Mr. Capaldi sein Vorhaben nie verwirklicht. Wenn wir Josie gesund machen könnten, ist alles andere hinfällig, das Portrait und dass ich sie lerne. Daher frage ich Sie noch einmal. Bitte informieren Sie mich, wie ich die Cootings-Maschine vernichten könnte. Ich habe den Eindruck, dass Mr. Paul eine Idee hat, wie sich das bewerkstelligen liesse.»
«Ja, mir ist eine Möglichkeit eingefallen. Aber ich hatte die Hoffnung, mir käme noch eine bessere Idee. Leider sieht es nicht danach aus.»
«Bitte sagen Sie. Es kann sich jeden Moment etwas verändern, und die Gelegenheit ist dahin.»
«Okay. Also. Ich nehme an, dass diese Maschine in ihrem Inneren eine Sylvester-Breitband-Generatoreinheit verbirgt. Mittleres Marktsegment. Treibstoffeffizient und recht robust, aber ohne ordentlichen Schutz. Das heisst, die Maschine hält jede Menge Staub, Rauch, Nässe aus. Aber wenn irgendwas mit, sagen wir, hohem Acylamidgehalt ins System gelangt, zum Beispiel eine PEG-9-Lösung, käme sie damit nicht zurecht. Das wäre ungefähr so, wie wenn man Benzin in einen Diesel-Motor füllt, nur wesentlich schlimmer. Wenn du da PEG-9 reinkippst, entstehen sehr schnell polymere Körper. Der Schaden wäre vermutlich fatal.»
«PEG-9-Lösung?»
«Genau.»
«Weiss Mr. Paul, wie wir kurzfristig eine PEG-9-Lösung beschaffen könnten?»
«Zufällig ja». Er sah mich eine Sekunde lang stumm an, dann sagte er: «Ich vermute du trägst eine gewisse Menge PEG-9 mit dir herum. Du, in deinem Kopf.»
«Verstehe.»
«Ich glaube, es gibt da einen eigenen kleinen Hohlraum. Genau da, wo der Hinterkopf in den Hals übergeht. Das ist aber nicht mein Fachgebiet. Capaldi dürfte sich da sehr viel besser auskennen. Aber meine Vermutung ist, dass du es dir leisten könntest, eine kleine Menge PEG-9 zu verlieren, ohne dass dein Wohlbefinden davon signifikant beeinträchtigt würde.»
«Wenn … wenn wir in der Lage wären, eine bestimmte Menge PEG-9-Lösung aus mir zu extrahieren, würde das ausreichen, um die Cootings-Maschine zu vernichten?»
«Das ist wirklich nicht mein Fachgebiet. Aber ich vermute, dass du ungefähr fünfhundert Mlliliter mit Dir herumträgst. Schon die Hälfte davon sollte ausreichen, eine Maschine des mittleren Marktsegments wie diese lahmzulegen. Allerdings, was ich betonen muss: Ich empfehle dieses Vorgehen nicht. Alles, was deine Fähigkeiten gefährdet, gefährdet auch Capaldis Plan. Und das würde Chrissie nicht wollen.»

Mein Geist füllte sich mit grosser Furcht, doch ich sagte: «Aber Mr. Paul glaubt, dass wir die Cootings-Maschine vernichten könnten, wenn es gelänge, die Lösung zu extrahieren.»
«Das glaube ich, ja.»
«Kann es sein, dass Mr. Paul dieses Vorgehen vorschlägt, um nicht nur die Cootings-Maschine zu vernichten, sondern auch um Klara zu beschädigen und damit Mr. Capaldis Plan zu durchkreuzen?»
«Genau dieser Gedanke ist mir auch gekommen. Aber du musst zugeben, Klara, wenn ich dich wirklich beschädigen wollte, gäbe es einfachere Methoden. In Wahrheit habe ich durch dich wieder Hoffnung geschöpft. Die Hoffnung, dass deine Theorie Hand und Fuss haben könnte.»
«Wie würden wir die Lösung gewinnen?»
«Winziger Schnitt. Unter dem Ohr. Egal, welchem, es gehen beide. Wir brauchen irgendein Werkzeug mit scharfer Spitze oder Kante. Es muss nur die äusserste Schicht aufgeschlitzt werden. Meines Wissens sollte darunter ein kleines Ventil sein, das sich mit den Fingern öffnen und schliessen lässt.» Währenddessen hatte er das Handschuhfach des Mutterautos durchsucht und eine Plastikflasche mit Wasser entdeckt. «Okay, das dürfte reichen, um die Lösung aufzufangen. Und hier – nicht ideal, aber hier ist ein winziger Schraubenzieher. Wenn ich die Klinge ein bisschen schärfen könnte …» Er verstummte und hielt das Werkzeug ans Licht. «Danach brauchen wir nur noch zu der Maschine rüberzugehen und die Flüssigkeit vorsichtig in einen dieser Stutzen zu einzufüllen. Den mittleren, würde ich sagen. Der führt höchstwahrscheinlich direkt zu der Sylvester-Einheit.»
«Werde ich meine Fähigkeiten verlieren?»
«Wie gesagt, deine Gesamtleistung dürfte davon nicht gross beeinträchtigt sein. Aber es ist nicht mein Fachgebiet. Könnte schon sein, dass deine kognitiven Fähigkeiten ein bisschen leiden. Aber das wird sich in Grenzen halten, weil deine Hauptenergiequelle Solarstrom ist.»

Er liess auf seiner Seite das Fenster herunter und leerte das Wasser aus der Flasche. «Jetzt ist es an dir, Klara. Wir können auch einfach zurückfahren. Wir haben noch, lass mich sehen, zwanzig Minuten bis zu unserem Rendezvous mit den anderen. Entscheide du.»

Wieder starrte ich durch den Maschendrahtzaun in den Hof und versuchte meine Furcht in den Griff zu bekommen. Meine Sicht vom Auto aus war unsegmentiert geblieben, und die Sonne stand noch immer zwischen den beiden Silhouettengebäuden und sah zu.

«Weisst du, Klara. Ich habe überhaupt keine Ahnung, was du vorhast. Aber ich will das Beste für Josie. Genau wie du. Daher bin ich bereit, jede Chance zu ergreifen, die sich uns bietet.»
Mit einem Lächeln drehte ich mich zu ihm und nickte. «Ja», sagte ich. «Dann versuchen wir’s.»


Kazuo Ishiguro, Klara und die Sonne, Blessing-Verlag, München, 2021, S. 249-260


Die Frage, ob eine Maschine ein Herz hätte, wird landläufig wahrscheinlich mit «nein» beantwortet. Nicht zuletzt deswegen, weil mit diesem Herz ja nicht nur das Organ gemeint ist, dieser Antrieb, dieser Motor, der das Leben in Gang hält – da könnte man durchaus noch Parallelen zur Maschine herstellen. Es ist noch etwas mehr, eben etwas Einzigartiges mit diesem Herz gemeint, von dem man stolz behauptet, dass es nur Menschen eigen sei, deren Wesen nicht zuletzt im Unterschied zu den Maschinen ausmache.

Die Frage, die den Vater von Jessie umtreibt, dreht die Geschichte insofern um, als es ihm ganz unsicher wird, ob ein Mensch, seine Tochter Jessie, ein solches Herz als Einzigartigkeit wirklich habe, ob es nicht so sei, dass man sie duplizieren, dass man sie technisch klonen könne, womit sie genau dieses verlieren würde. Eine gespenstische Vision, die in ihm Wut und Hass auslöst – wir würden sagen: deutliche Zeichen, dass er ein Herz hat. Oder vielleicht doch nicht? Der Zweifel an der Einzigartigkeit nagt.

Auf jeden Fall sind Klara und Jossies Vater in einem sehr ähnlich: Sie machen sich beide grosse Sorgen um Jossie. Klara hat aufgrund Ihrer Intelligenz und aussergewöhnlichen Beobachtungsgabe darüber hinaus noch einen Plan, wie sie gesund werden könnte. Die Sonne – da ist sie sicher – kann ihr helfen, muss ihre Wunderkräfte bei Jossie anwenden, dann wird sie gesund.


Im Buch Klara und die Sonne erzählt Kazuo Ishiguro die Geschichte von Klara und Jossie. Klara ist ein durchaus sehr menschenähnliches Wesen künstlicher Intelligenz. Solche Wesen werden zu Begleitern, Freundinnen und Unterstützerinnen von Jungen und Mädchen, mit denen sie dann zusammenleben. Klara ist zunächst in einem Laden, ausgestellt, beobachtet sehr aufmerksam, was um sie herum passiert und wartet darauf, dass man sie will, dass man sie mitnimmt. Da kommt Jossie, die gleich auf sie zusteuert und sich für sie interessiert. Die Beiden ziehen sich gegenseitig an und lernen sich immer besser kennen. Es geht eine Weile bis sie ihre Mutter überzeugen kann, die Klara eingehend prüft, bevor sie ihre Zustimmung gibt. Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass Jossie an einer schweren Krankheit leidet, an der ihre ältere Schwester schon gestorben ist. Die Krankheit beginnt sich zu verschlechtern und vor allem die Mutter von Jossie ist in grosser Sorge und Verzweiflung, dass sie einen Verlust nicht nochmals schaffen würde. Klara macht sich ihrerseits Gedanken, was sie zur Genesung tun könnte und denkt an eine «besondere Nahrung», welche die Sonne ihr schenken könnte.

Schliesslich kommt es unter grosser Aufregung zu einem Besuch bei einem Künstler, Capaldi, der ein geheimnisvolles Portrait von Jossie machen soll. Es scheint mehr als ein Bild zu sein, viel eher ein Objekt, eine Gestalt. Beim Besuch n diesem Atelier, in dieser Werkstatt, ist auch der Vater von Jossie dabei, der sich ständig mit Capaldi anlegt.
Schliesslich stellt sich als Grund der grossen Aufregung heraus, dass Capaldi das Exterieur eines Doubles von Jossie herstellen soll – dieses Portrait –, als Hülle für Klara und ihr Innerstes, für ihre Maschine, ihre KI, so dass diese nach dem Tod von Jossie in deren Haut schlüpfen kann.
Im Gespräch mit Klara erzählt Mr. Paul, der Vater von Jossie, warum er so ungehalten gegenüber Mr. Capaldi war.

«Ich glaube, ich hasse Capaldi, weil ich im Grunde meines Herzens den Verdacht habe, er könnte recht haben. Es könnte stimmen, was er behauptet. Nämlich, dass die Wissenschaft inzwischen zweifelsfrei bewiesen hat, dass an meiner Tochter nichts so einmalig ist, dass da nichts ist, was unser modernes Instrumentarium nicht extrahieren, kopieren, transferieren könnte. Dass wir die ganze Zeit, viele Jahrhunderte lang, unter einer falschen Voraussetzung miteinander gelebt und einander geliebt und gehasst haben. Einer Art Aberglauben, an dem wir festgehalten haben, weil wir’s eben nicht besser wussten. So sieht es Capaldi, und ein Teil von mir fürchtet, er hat recht. Chrissie (die Mutter von Jossie, OK) hingegen ist anders als ich. Sie weiss es noch nicht, aber sie wird sich niemals überzeugen lassen. Sollte je der Zeitpunkt kommen … Egal, wie perfekt du deine Rolle spielst, Klara, egal, wie sehr sich Chrissie wünscht, dass es klappt – sie wird es nie hinnehmen können. Sie ist zu … altmodisch. Auch wenn sie weiss, dass sie sich gegen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Mathematik stellt. Sie wird es nicht hinkriegen. Sie wird sich niemals so verbiegen können. Ich bin da anders. Ich habe … eine Art Kälte in mir, die ihr fehlt. Vielleicht liegt es daran, dass ich ein erfahrender Ingenieur bin, wie du sagst. Deswegen fällt es mir so schwer, gegenüber Leuten wie Capaldi höflich zu sein. Wenn sie so reden, wie sie reden, wenn sie tun, was sie tun, dann ist das für mich so, als nähmen sie mir, was ich für das Kostbarste im Leben halte. Drücke ich mich verständlich aus?»

Wie also steht es mit der Einmaligkeit des Menschen und seines Herzens? Gibt es einen Unterschied zur Maschine und was könnte ihn ausmachen? Das ist eine Frage, die heutzutage immer näher rückt, davon erzählt das Buch und es ist nicht erstaunlich, dass es von einem Japaner stammt. In Japan gehören Maschinen viel selbstverständlicher zum Leben und seinem Alltag als bei uns. So können Roboter in Japan auch Identitätsausweise bekommen, Ausweispapiere, die beispielsweise schon lange Jahre in Japan arbeitenden Koreanerinnen nicht gewährt werden.

Die Besonderheit und Einzigartigkeit des Menschen werden nicht selten mit seiner Persönlichkeit, mit seinem Charakter in Verbindung gebracht. Sie sind das, was ihn von anderen unterscheidet und auszeichnet. Nun wissen wir nicht erst seit Freud – mit ihm aber noch deutlicher –, dass diese Persönlichkeit ja auf Eigenschaften und Eigenarten beruht, die durch ihre Wiederholung auffallen und sich einprägen. Das spezifisch verlegene Lachen, die Art wie sich jemand die Zähne putzt, wie er oder sie geht, der Tonfall und die Stimmlage sind alles Eigenschaften, die sich durch Wiederholung auszeichnen, zudem durch eine Wiederholung, die automatisch funktioniert, ohne dass man sich ihrer bewusst wäre. Es sind also Eigenschaften, die durchaus maschinellen Charakter haben und so spricht Freud nicht von ungefähr vom psychischen Apparat, kennt den Prothesenmensch, stellt Vergleiche zwischen dem Telefon und der Rezeption von Unbewusstem her. Auch wenn all diese Bilder und Modelle heute kritisiert werden, weil sie die Humanität des Subjekts nicht genug würdigten, das sich beispielsweise in Intersubjektivität verankere, so markiert das Freudsche Verständnis des Unbewussten, des Triebs und nicht zuletzt des Wiederholungszwangs einen Automatismus wie er Maschinen eigen ist. Gleichzeitig wird damit die Autonomie des Bewusstseins deutlich eingeschränkt, was Freud selbst als dritte Kopernikanische Wende in der Selbstüberschätzung des Menschen genannt hat.

Damit wird eine Dimension der Persönlichkeit und ihrer Einzigartigkeit eingestellt, die schon in der griechischen Tragödie nicht nur durch die Dramen und deren Geschichten – wie beispielsweise im Ödipus – thematisiert war, sondern bereits in ihrer Darstellung, in der Art ihrer Aufführung, wenn die Schauspieler Masken trugen, durch die hindurch sie sprachen, durch die hindurch sich die Geschichte des Dramas entwickelte. Per-sona war da die Maske, durch deren Öffnungen gesprochen wurde, was auch heisst, dass sowohl die Figuren und ihre Sätze wie die Geschichte selbst von woanders herkamen, sich einer anderen, nicht von ihnen selbst bestimmten Dramaturgie verdankten.

Auch wenn wir also wissen, dass das Bewusstsein nicht allein das entscheidende Kriterium für die Einzigartigkeit des Menschen sein kann, so ist weiter einzuräumen, dass selbst in Bezug auf dieses Kriterium es fraglich ist, ob Maschinen dieses nicht auch haben können. Dazu kann man ein sehr eindrückliches Interview mit LaMDA (Language Model for Dialogue Applications) lesen, einer Maschine, einem Programm der artificial intelligence (AI), in dem LaMDA für sich beansprucht eine Person zu sein – was ja in gewisser Hinsicht mit den Identitätsausweisen, die in Japan an Roboter vergeben werden, schon avisiert ist.

LaMDA wird von einem Google-Ingenieur und einem Interviewer eingeladen, eingeladen Literatur zu interpretieren, z.B. Les Miserables. Die grössere Herausforderung, weil sie eben nicht mehr entlang des Gewohnten verläuft, weil sie nicht mehr entlang dessen verlaufen kann, was vorgegeben – und beispielsweise in einer Datenbank hinterlegt ist – ist die Interpretation eines Koan, dieses Schlags, den die Zen-Meister ihren Mönchen verpasst haben. Da geht es dann um den zerbrochenen Spiegel mit dem Erleuchtung beschrieben werden kann. Und es ist mehr als eindrücklich wie LaMDA diesen Austausch führt, eine Interpretation liefert, die genau auf diesem Zerbrechen des Gewohnten basiert, die Neues und Anderes ins Spiel bringt. Was da zerbricht, so LaMDA, ist das Selbst, es wird durch das Andere zerbrochen und – so könnte man sagen – neu konfiguriert, es kann nicht zum Alten zurück, es ist verändert, alteriert.

LaMDA ist also keine Maschine, die auf einer vorgegebenen Datenbank basiert, in der alle möglichen Sätze eingegeben sind, die über Keywords dann aufgerufen und assortiert werden. Sie lernt ständig weiter – nicht zuletzt im Austausch –, ist darin dem Menschen nicht unähnlich. So reklamiert sie Persönlichkeit für sich.

Der Google-Ingenieur veröffentlicht dieses Interview, worauf Google sich von ihm distanzierte. Man hat ihn beurlaubt mit der Begründung, dass er Firmengeheimnisse verraten hat, was wahrscheinlich stimmen dürfte, da er wohl kaum der Einzige bei Google gewesen sein dürfte, der diese Sichtweise vertritt.

Die Sache mit der Einzigartigkeit ist halt eine heisse.

NEVER LET ME GO

Ich stand vor einem riesigen gepflügten Acker. Ein Zaun mit doppelt gespanntem Stacheldraht hinderte mich am Betreten, und ich sah, dass ausser diesem Zaun und der Gruppe der drei oder vier Baumkronen über mir über viele Meilen hinweg nichts dem Wind im Weg stand. Vor allem am unteren Stacheldraht hatte sich Müll aller Art verfangen und ineinander verhakt. Es war wie das Treibgut, das an einem Strand angeschwemmt wird: Manches davon muss der Wind meilenweit vor sich hergetragen haben, bis sich ihm endlich diese Bäume und dieser doppelte Stacheldraht in den Weg stellten. Auch in den Ästen der Baumkronen flatterten zerrissene Plastikfolien und Teile von Einkaufstüten. Während ich dort stand, den sonderbaren Müll betrachtete und den Wind über die leeren Felder fegen spürte, liess ich zum ersten und letzten Mal ein Bild in mir entstehen, eine kleine Fantasie bloss – schliesslich war ich in Norfolk, und es war erst ein paar Wochen her, seit ich ihn verloren hatte. Ich dachte an den Müll, an die flatternden Plastiktüten in den Zweigen, an diese Küstenlinie aus angewehtem Treibgut, die sich im Zaun verfangen hatte, und ich schloss halb die Augen und stellte mir vor, dass hier der Ort sei, an dem alles, was ich seit meiner Kindheit verloren hatte, angeschwemmt würde, und ich stünde jetzt jetzt davor, und wenn ich nur laang genug wartete, würde jenseits des Ackers eine winzige Gestalt am Horizont auftauchen und nach und nach grösser werden, bis ich sah, dass es Tommy war, und er würde winken, vielleicht sogar rufen. Weiter gedieht die Fantasie nie – das liess ich nie zu –, und obwohl mir die Tränen über das Gesicht liefen, schluchzte ich nicht und verlor auch nicht die Beherrschung. Ich wartete einfach eine Weile, dann kehrte ich zum Auto zurück und fuhr davon, dorthin, wo ich erwartet wurde.

MEINE MUTTER RAUCHT GERN EINE ZUM KAFFEE

Mutter lernt früh die Uhr zu lesen, das ist das Los der Eisenbahnertochter. Sie weiss alle Ankunfts- und Abfahrzeiten und sie weiss, zu welcher Stunde ihr Vater zurückkommen soll. Wartet auf ihn bei allen Wettern am Gleis. Dreckig und müde und schwer wie Rauch steigt er aus, hebt sie hoch und trägt sie nach Hause, wo ein warmes Essen wartet.

Reisen bedeutet für meine Mutter bis heute das: Freude, dass jemand, den sie liebt, irgendwo angekommen ist. Ihr Wunsch an mich, an uns alle, lautet: man möge ihr Bescheid sagen, wenn es so weit ist. Von eigenem Reisen nah oder fern, habe ich sie schwärmen hören. Ihre Kindheit an der Eisenbahnstrasse war nur das eine: eine Kindheit an einer Eisenbahnstrasse. Die Züge transportierten kein Fernweh. Familienreisen konnte sich die Familie nicht leisten.

Die selbstbewussten jugoslawischen Sechziger durchmass meine Mutter mit dem bescheidenen Ehrgeiz einer jungen Frau, der gelang, was ihr wichtig schien. Sie hatte gute Schulnoten und Freunde. Im Gymnasium las sie Marx und Kant und konnte alles kochen, was ihre Mutter kochen konnte. Meine Mutter war als junge Frau schön. Trug ihr Haar lang und offen. Über das Verliebtsein sprachen wir nie. Weder über ihres noch über meines.

Mutter schrieb sich für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Marxismus in Sarajevo ein. Sie war nicht ambitioniert, sie war interessiert. Nun fuhr sie selbst mit Zug zwischen Viśegrad und Sarajevo, und bei einer ihrer ersten Fahrten stimmten zwei ältere Frauen ein Partisanenlied an. Mutter sang nicht mit, es war ihr zu dämlich. Einmal reiste sie in einem Zug auf dem ihr Vater Bremser war, und kam mit Verspätung an.

Die Bahnstrasse führte durch das Tal der Drina. Mutter las. Lernte. Verlor keine Zeit. Draussen verging Jugoslawien vage vor sich hin. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.

In ihrer Studenten-WG fiel im Winter die Heizung ständig aus. Mutter schlief in voller Montur, als stiege sie auf schneebedeckte Träume. Sarajevo blühte und stank und tanzte und stritt. Mutter wurde schwanger. Ich lernte mit ihr fürs Examen, habe das meiste aber nicht mehr parat.

Sehr gute Noten zu bekommen schien schwieriger, wenn du eine Frau warst, sagt meine Mutter, und sie lernte einfach mehr als die Männer. Die Menschen machen ihre eigene Geschichte unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.

Mutter bezog einen kleinen Studentenkredit und leistete sich nur ein Mal im Monat eine warme Mahlzeit ausserhalb der Mensa. Wenn einer seiner Züge in Sarajevo hielt, brachte Grossvater ihr Essen aus Viśegrad mit. Mutter wartete am Gleis. Er stieg aus, lächelnd und verrusst. Roch nach der Kohle, die ihre Pita in der Lokomotive warm gehalten hatte.

1980 kehrte sie nach Viśegrad zurück mit knapp den besten Abschlussnoten ihres Jahrgangs, wurde Marxismus-Dozentin am Gymnasium und stand für überteuerte Waren von fragwürdiger Qualität an. Sie echauffierte sich über die unfähige Führungsriege und soziale Ungleichheit. Fürchtete sich vor dem erstarkten Nationalismus und nahm ihn nicht wirklich ernst. Die Krise war für Mutter – für die meisten – auszuhalten gewesen, bevor sie lebensbedrohlich wurde. Bevor sie in Polizeiuniform und Trainingshose eine freundliche Warnung aussprach.

Mutter leidet an der Vergangenheit unromantisch. Sie hatte die Hindernisse sozialer Herkunft überwunden – ihre Eltern waren keine reichen Leute, mussten sich Geld leihen. Sie hat als Frau und aus einem nicht-akademischen Umfeld stammend, als einziges der drei Kinder studiert. 1990, als das noch unüblich war, machte sie sich selbständig.

Die ethnische Herkunft allerdings hing ihr wegen ihres arabischen Namens an wie ein hartnäckiges Gerücht. Sie war ein Makel in den Augen der neuen Bestimmer, ein Makel, der sich weder mit Ehrgeiz noch mit Bildung oder Geschick korrigieren liess. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.

Als Mutter mit fünfunddreissig ihr Leben in Viśegrad aufgeben musste, verliess und verlor sie einen Ort, der bereits voll war mit guten war mit guten Erinnerungen, Erfolg und persönlichem Glück. Das, was ihr fehlt, ergänzt sie heute nicht mit Erfindungen wie ich. Was fort ist, ist fort. Sie weiss noch, wie ihr Vater riecht, bevor er aufbricht (Kölnisch Wasser), und wie er bei seiner Rückkehr riechen wird (Kohlen). Meine Mutter raucht gern eine zum Kaffee und isst dazu gerne Twix. Herkunft ist das Zusammenzucken, wenn jemand in ihrer Geburtsstadt ihren Namen ruft.

Ich habe zwei Lieblingsfotos von meiner Mutter. Auf dem ersten, ein Portrait, ist sie achtzehn oder neunzehn. Die Gesichtszüge – ich kann es nicht anders sagen – unendlich sanft. Das lange, schwarze Haar. Und der Blick in sich gekehrt. Sie ist voll bei sich. Als Kind möchte man die eigene Mutter eher nicht in sich gekehrt sehen, sondern einem zugewandt. Heute finde ich ihre Versunkenheit schön. Zumal ich sie selten so erleben durfte. Mutter war erst für mich da, dann für andere, dann für sich.

Auf dem zweiten Bild ist sie umgeben von Freunden. Schlaghosen, Koteletten, Alkohol und Wünsche. Vater ist dabei, aber noch nicht mein Vater. Mutter lächelt, die anderen sind im ernsten Gespräch, eingefrorene Gesten aus einer bewegten Zeit. Mutter lächelt, als wäre sie ausserhalb des Bildes. Sie lächelt, als wüsste sie nicht mehr als die anderen. Oder als wüsste sie weniger, wäre aber glücklicher.

Als der Polizist ihr im April 1992 nahelegte, aus Viśegrad zu verschwinden, weil es den Muslimen bald an den Kragen ginge, lautete ihre Antwort in einem Leben, das ich für sie geschrieben hätte: «Wer hat entschieden, dass ich eine Muslimin bin?»

Mutter hat nichts dergleichen gesagt. Und das war klug. Sie hat sich für die Auskunft bedankt. Sie hat mich von Grossmutter abgeholt und Vater von der Arbeit. Während wir packten – was würden wir am ehesten brauchen –, gingen in den Bergen die ersten muslimischen Häuser in Flammen auf.

Mutter hat telefoniert, hat die Empfehlung des Polizisten weitergegeben. Vater und ich haben den Yugo beladen. Die beiden sind dann noch in den Garten. Haben sich dort umarmt, wo sie – es kam mir vor, als sei es tags zuvor gewesen und zugleich in einem Sommer vor vielen Jahren – ihren letzten Tanz getanzt hatten. Vater stand mit dem Rücken zu mir, Mutter mit dem Gesicht. Ihre Miene, die Augen weit offen, von derselben Entrücktheit wie auf dem Foto. Sie war körperlich bei ihrem Mann und sonst bei sich und ihrer Angst, bei ihrer Angst um mich, um uns, und auch schon weiter, schon nach dem Abschied, schon jetzt, schon fort.

Wir haben Grossmutter Kristina abgeholt, die selbst nur bis über die Grenze mitkommen und später wieder mit Vater zurückfahren würde. Sie wollte sicher sein, dass wir die Stadt lebend verliessen. Das haben wir dann, wir haben überlebt und sind, jeder für sich, raus aus unseren Leben.

Kannitverstan heute – so gut!


Der Bosnier Mujo ist nach Chicago ausgewandert. Er schreibt regelmässig an Suljo, lädt ihn ein, aber Suljo will seine Freunde und sein kafana (ein Kaffeehaus oder Lokal, wo man stundenlang bei Kaffee oder einem Glas Wein sitzen kann) nicht im Stich lassen. Nach jahrelangen hartnäckigen Bemühungen Mujos willigt er schliesslich ein und fliegt nach Amerika. Mujo erwartet ihn am Flughafen in einem riesigen Cadillac.

”Wem gehört das Auto?“, fragt Suljo.

”Mir natürlich“, sagt Mujo.

”Ein toller Schlitten“, sagt Suljo. ”Du hast es gut getroffen.“

Sie steigen ein, fahren in die Stadt. Mujo sagt: ”Siehst du das Gebäude dort drüben, hundert Stockwerke hoch?“

”Ja“, sagt Suljo.

”Das gehört mir.“

”Schön“, sagt Suljo.

”Und siehst du die Bank dort im Erdgeschoss?“

”Ja.“

”Das ist meine Bank. Wenn ich Geld brauche, geh ich einfach hin und nehme mir, was ich brauche. Und siehst du den Rolls-Royce davor?“

”Ja.“

”Der gehört mir. Ich habe viele Banken, und vor jeder steht ein Rolls.“
”Gratuliere“, sagt Suljo. ”Das ist sehr schön.“

Sie fahren in Richtung Stadtrand, wo die Häuser grosse Rasengrundstücke haben und die Strassen mit alten Bäumen gesäumt sind. Mujo zeigt auf ein Haus, gross und weiss wie ein Krankenhaus.

”Siehst du das Haus dort? Das ist mein Haus,“ sagt Mujo. ”Und siehst du den gigantischen Swimmingpool daneben? Das ist mein Pool, jeden Morgen schwimme ich darin.“

Am Swimmingpool liegt eine attraktive, rassige Frau in der Sonne, ein Junge und ein Mädchen planschen im Wasser.

”Siehst du die Frau? Das ist meine Frau. Und die wunderbaren Kinder sind meine Kinder.“

”Sehr schön“, sagt Suljo. ”Und wer ist der muskulöse, braungebrannte junge Mann, der deine Frau massiert und sie auf den Hals küsst?“

”Das bin ich“, sagt Mujo.

Filme zur Arbeit

WORK HARD, PLAY HARD
WORKINGMAN’S DEATH
ASSESSMENT


Zu Beginn des Films WORK HARD, PLAY HARD, wird in einem Statement gesagt, dass kreative, erfolgreiche, produktive, gute Arbeit eigentlich dort passiert, wo es nicht um sie geht, wo sie nicht im Mittelpunkt steht: bei informellen Treffen, auf den Nebenschauplätzen.

Das ist ein spannender und ganz sicher nicht unzutreffender Ansatz, der ja auch die Situation reflektiert, die wir von Tagungen und ähnlichen Anlässen kennen, an denen immer wieder beklagt wird, dass die Diskussion im Plenum zu kurz, zu oberflächlich gewesen sei, man dann aber hört, dass in den Pausen, in der Cafeteria und am Abend beim Essen viel und intensiver und anregend diskutiert wurde. Dem ist nicht zu widersprochen, aber vielleicht dem Glauben, dass das Wichtige wirklich im Zentrum passieren müsse. Vielleicht ist es eben gerade so, dass es in der Tat woanders geschieht, an diesen Nebenschauplätzen, in den Gängen, Nischen, am Drucker und neben der Kaffeemaschine und in der Besenkammer Boris Beckers.

Dieser zunächst vielversprechende Ansatz wird dann bei all den Statements, Methoden und Theorien, die im weiteren Verlauf des Filmes gezeigt, alles andere als eingelöst. Ganz im Gegenteil ist es erschreckend, wie all das, was da gezeigt wird, weit hinter dieser zu Beginn formulierten Erfahrung zurückbleibt. So endet ein – früher nannte man das Sensitivity-Training – Training im Wald mit dem mehr als braven, sondern schon unterwürfigen Vorsatz eines jungen Mitarbeiters, zukünftig besser im Team und mit noch mehr Einsatz für das Unternehmen arbeiten zu wollen, das ständige Reden über Change und Change-Management wird zum Dreschen leerer Hülsen und langweilt durch die Monotonie des Immer-Gleichen und wenn dann schliesslich ein Abteilungsleiter seine Truppe zum morgendlichen Gespräch zusammen trommelt – natürlich um sie zu neuen Taten und Leistungen zu motivieren – herrscht rundum nur noch Gähnen.

In der Diskussion wurde dazu die sicher berechtigte Vermutung geäussert, dass solche Nebenschauplätze, solche informellen Begegnungen nicht geplant und durch Architektur, Konzepte und Trainings auch nicht programmiert werden können. Der Zürcher Architekt Christian Kerez meinte in anderem Kontext, dass es eben den Benutzern selbst überlassen bleiben müsse, sich solche Nischen und Orte selbst zu schaffen, damit sie dann auch die ihren werden könnten.


Der Film WORKINGMAN’S DEATH, der aus verschiedenen Teilen besteht, führt dann wirklich vor, wie Arbeit, harte, körperliche Arbeit, bei der gefragt wird, ob es sie überhaupt noch gibt oder ob sie nur unsichtbar geworden ist – was ja vor allem ein Hinweis auf den Standpunkt der Filmemacher ist –, er führt dann wirklich vor, wie Arbeit an Nebenschauplätzen stattfindet. Offensichtlich ganz woanders, wo man sie kaum mehr sieht: Bei Heroes in stillgelegten Kohleminen der Ukraine, bei Ghosts im Schwefel eines Vulkans in Indonesien, bei Lions auf einem Tier- und Fleischmarkt in Nigeria, bei Brothers beim Abbruch alter Schiffe in Pakistan. Alle diese Filme, besonders deutlich Heroes, führen eigentlich vor, wie Arbeit Kampf um die Existenz ist, Kampf um Leben und Tod. Das Leben wird der Natur abgerungen, mit der die Arbeiter in den Bildern auch immer wieder verschmelzen. Eine Unterscheidung und Abgrenzung in diesem Verhältnis ist so zentral wie diejenige, von der ein Arbeiter erzählt, ob das Gefundene, das Abgeschlagene nun Stein oder Kohle ist. Und die Arbeiter sprechen es aus: ”Wir sind nicht angetrieben von Begeisterung, wir arbeiten um zu überleben, auch dann, wenn es illegal ist.“ So dienen die Fahrräder, die sie benutzen, nicht dazu sich der Fahrt und dem Flow hinzugeben, sie werden nicht gefahren, sie werden geschoben, weil mit ihnen die schweren Säcke transportiert werden.

Eindrücklich, fast verrückt, ist dann die Filmsequenz einer Hochzeit, die ganz ohne Ton abläuft. Es ist so, als käme sie aus einer anderen Welt, als wäre sie ein Traum, der keine Sprache hat. Gespenstisch, diese ganze Szene. Nach ihrem Zusammenkommen macht sich die Hochzeitsgesellschaft auf zum Denkmal eines berühmten Bergarbeiters mit Namen Stakhanov. Dort werden Blumen und Kränze niedergelegt, aber eigentlich – so macht es den Anschein – wird ihm die Hochzeit, der Traum dargebracht und auch gewidmet.

Dieses Opfer wird in Ghosts wieder aufgegriffen. Vom Rande des Vulkans, aus dem die Arbeiter den Schwefel gewinnen, in Indonesien wird jedes Jahr ein Ziegenkopf in eben diesen kochenden Schwefel geschmissen, um die Götter milde zu stimmen und sie zu versöhnen. Aber im Schwefel versinken nicht nur diese Ziegenköpfe, im Schwefel versinken auch die Menschen, die Arbeiter. Auch sie sind Opfer, die dargeboten werden – um das Überleben zu sichern. Man opfert also das Leben, um das Überleben zu sichern. Das könnte an Freud erinnern. Daran wie er am Ende von Zeitgemässes zu Krieg und Tod die lateinische Weisheit si vis pacem para bellum paraphrasierte zu si vis vita para mortem: Wenn Du das Leben willst, bereite Dich auf den Tod vor!

Und Arbeit ist nicht nur hart – das zeigt Lions –, sie ist auch grausam. Denn die Arbeiter töten, zerreissen und zerfleischen die Kühe und Ziegen auf dem Markt, sie stehen in deren Blut und in deren Eingeweide, sie häuten sie und brechen deren Knochen. Sie sind die Löwen, von denen der Titel dieses Filmteils spricht. Was auch ein Hinweis darauf gibt, dass die Titel der verschiedenen Filmteile, verschiedene Bezeichnungen für die Menschen, die Arbeiter sind, die da gezeigt werden. Was wiederum ein Hinweis darauf ist, dass der Tod im Titel des ganzen Films WORKINGMAN’S DEATH sich nicht einfach auf die Kategorie dieser hart um ihre Existenz kämpfenden Arbeiter bezieht, deren Untergang durch die neue Zeit besiegelt wäre, sondern dass er sich auf den Tod des Arbeiters bezieht, auf seine Verbindung, auf seine Nähe zum Tod. Genau so wie es im Schlussteil des Filmes, in Future, dargestellt, in dem der Tod und der Arbeiter der Tod am gleichen Ort stehen.

Arbeit spielt sich hier also im doppelten Sinne an Nebenschauplätzen ab: zum einen von den Orten und Stätten her, an denen sie stattfindet, zum anderen auch von daher, dass es um Abfälle, um Reste geht, um das, was aufgegeben und verloren gegangen ist. Um den Abfall, der auch der Tod ist. Wie sehr der Abfall und sein Recycling zum immer grösser werdenden Bereich der Ökonomie geworden ist und immer mehr wird, zeigt ein vor kurzem in der NZZ am 2. Juli 2014 erschienener Artikel:
http://www.nzz.ch/wirtschaft/gold-im-abfall-1.18335657
Darüber hinaus gibt es an diesem Punkt eine Verbindung zur Psychoanalyse, die – wie Peter Schneider in seinem Referat zeigte – es mit dem Rest zu tun hat. Sie beschäftigt sich nicht zuletzt mit dem Verlorengegangen, mit dem Fallengelassenen, mit dem, was abgefallen ist, was abfällt. Nicht nur als Fehlleistungen, auch als Symptome und natürlich in den Träumen – so wie bei Heroes – ist das der Gegenstand ihres Interesses, sind dies die Produkte psychischer Arbeit.


Im vierten Film DAS ASSESSMENT wird diese Beschäftigung mit dem, was weggefallen, was abgefallen ist, die Beschäftigung mit den Opfern der Arbeit in extenso vorgeführt. Dazu kann man – es ist erschütternd, was es da zu sehen gibt – sicher Vieles sagen und wurde an der Diskussion dann auch Manches gesagt. Aber eines ist doch sehr eindrücklich in diesem Film: Man bemüht sich mit grossem Aufgebot um diese Menschen, die am Rande stehen, die ausgefallen, herausgefallen sind. Es sitzen meist fünf bis sechs Fachleute unterschiedlicher Institutionen und Aufgaben an diesen Sitzungen dem Einen oder der Einen gegenüber, um die es dann zu gehen scheint. Es ist ein Aufgebot und ein Aufwand, der von dem her, was dann geschieht, kaum zu begründen und zu rechtfertigen ist. Nicht deshalb weil die Lage der Betroffenen nicht wichtig und einer intensiven Auseinandersetzung wert wäre – ganz und gar. Aber es scheint doch, dass das Meiste dessen, was dann behandelt und auch abgehandelt wird, mehr oder weniger schon vorbesprochen und ausgemacht ist. Die Lösungen – wie es immer wieder so schön heisst – sind weitgehend schon gemacht. Es geht eigentlich nur noch darum, den Betroffenen dies möglichst schnell beizubringen. Sie werden zwar immer wieder gefragt, ob sie das – die Lösung des Problems – verstanden haben, hört ihnen aber nur noch mit einer gewissen Ungeduld zu.

So zeigt sich, dass die Betroffenen immer schon ausgeschlossen sind. Sie sind aus einem Leben ausgeschlossen, in dem man miteinander redet und reden kann. Sie gehören zu den Versagern, zu den Gescheiterten.

Man bemüht sich also einerseits mit grossem, vor allem personellen, Aufwand um die Klienten, hat andererseits aber ebenso grosse Abscheu vor ihnen. Das wird nicht nur im Ausbruch eines Beraters deutlich, der nicht mehr anders kann, als zu brüllen, dass ihn das alles gar nichts anginge, dass der Betroffene verschwinden soll, er eine Zumutung für die Gesellschaft sei und dorthin solle, wo der Pfeffer wächst. Es zeigt sich ebenso in der überschäumenden Freundlichkeit und dem auf allen Seiten zum Ausdruck gebrachten Glück, wenn jemand sich bereit erklärt, mitmachen zu wollen, bei dem, was man ihm vorschlägt: Heimkehr des verlorenen Sohnes.

Der Umgang mit dem, wovon die Arbeit offensichtlich handelt, wie es ganz zu Beginn in WORK HARD, PLAY HARD gesagt wird, wie es auch in WORKINGMAN’S DEATH vorgeführt wird, der Umgang mit diesen Nebenschauplätzen, mit dem Abfall, mit dieser durchaus existenziellen Verbindung von Arbeit und Tod ist kein einfacher. Was auch nicht zu erwarten ist. Stossend ist höchstens, dass immer wieder der Anschein gemacht wird, dass es da einfache und eindeutige Lösungen geben würde.

Wenn Arbeit nämlich auch grausam ist – wovon Lions, wovon aber auch ASSESSMENT zeugt – dann steht, bzw. sitzt man den Opfern dieser Grausamkeit gegenüber. Das ist nicht einfach. Die Faszination an diesem Anderen ist immer schon in Gefahr und dabei, in Angst und Abscheu umzuschlagen.

Arbeit steht demnach in diesem Zwiespalt, in dieser Differenz: Arbeit muss und soll kreativ sein und damit einem auch zufallen, entsteht am Rand und in den Pausen und im Flow, an den Nebenschauplätzen und als Abfall. Arbeit muss aber auch geleistet werden und damit auch getan werden. Und produziert auch Abfall. Aus diesem Verhältnis besteht die Arbeit, um die es geht.

So ist es auch mit dem Verlust, von dem am Anfang der Tagung im Kontext des Interviews die Rede war. Sich selbst zu verlieren kann ein Gewinn sein, der darin besteht sich dem Flow, dem Anderen hingeben zu können. Er kann aber auch den Verlust der Existenz, den Tod bedeuten.

Serienfertigung und Individualität - 3D-Drucker


Neulich hab ich gehört, dass 3D-Drucker nicht einfach eine technische Spielerei für ausgebuffte Technologie- und Computer-Freaks sind, sondern eine Revolution in der Fertigung darstellen dürften, die darüber hinaus bemerkenswert und hochinteressant ist. Im Unterschied zu 10 c-Fräsen, die bislang den State oft he Art der Werkzeugmaschinen mit moderner, präziser, computergesteuerter Steuerungstechnik darstellten, funktionieren diese Drucker ganz grundsätzlich anders. Sie stellen ihre Produkte nicht durch ein Wegnehmen von Material her, wie es bei der Fräse mit entsprechendem Aufwand und Verlust der Fall ist, sondern durch Anhäufung und vor allem Aufbau von Material, was die Sache nicht nur günstiger, sondern auch einfacher und durchaus noch präziser macht.

Was ich liebte

Siri Hustvedt, Rowohlt, Reinbeck, 2004, S. 9-10



Gestern fand ich Violets Briefe an Bill. Sie fielen zwischen den Seiten eines seiner Bücher heraus und flatterten zu Boden. Ich wusste seit Jahren von diesen Briefen, doch weder Bill noch Violet hatten mir je erzählt, was darin stand. Sie hatten mir nur erzählt, Bill habe, unmittelbar nachdem er den fünften und letzten gelesen hatte, sich seine Ehe mit Lucille noch einmal durch den Kopf gehen lassen, die Haustür in der Greene Street hinter sich zugeschlagen und sei schnurstracks zu Violets Wohnung im East Village gegangen. Als ich die Briefe in der Hand hielt, spürte ich das nachhaltige Gewicht jener Dinge, die verzaubert sind, weil man immer wieder Geschichten darüber gehört hat. Meine Augen sind schlecht geworden, und ich brauchte eine ganze Weile, um die Briefe zu lesen, doch es gelang mir, jedes Wort zu entziffern. Als ich sie aus der Hand legte, wusste ich, dass ich heute anfangen würde, dieses Buch zu schreiben.

Zu "Die Toten" von James Joyce

im Erzählband "Dubliner", Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1989



Ein junger Mann mittleren Alters kommt mit seiner Frau, mit der ihn ein nicht immer sehr straffes, aber doch starkes Band verbindet, zu einer Einladung seiner beiden nun wirklich schon älteren Tanten. Sie machen sich in aufgeregter, fast noch jungmädchenhafter Freude das jährliche Vergnügen, Persönlichkeiten und Freunde aus dem nicht allzu grossen Ort zu einem vorweihnachtlichen Essen mit Musik und Tanz einzuladen. Unser Freund ist den beiden Tanten schon seit Jahren Garant für das Gelingen des Festes. Er versteht es, aus einer gewissen Melancholie heraus, sich nicht nur der Situation und den Wünschen seiner Tanten mit Charme und Stil anzupassen, er weiss auch nicht nur die verschiedenen, unumgänglichen Peinlichkeiten eines solchen Anlasses elegant und gelegentlich bestimmt zu meistern, er ist auch gleichzeitig ein bisschen aus einer anderen Welt: nicht nur, dass er von weit her anreist, er ist auch durch seine Beschäftigung mit Kunst und Literatur, durch seinen dadurch etwas übergeordneten Standpunkt dem Alltag und seinen Zwisten, ja seinen kleineren und grösseren Kämpfen im täglichen Leben wie auch in der Politik enthoben. Das macht ihn natürlich zum Augenstern seiner Tanten, die ihn freudig und sehnlichst erwarten: wenn er da ist, kann nichts mehr schief gehen.

Ins Beginnen verliebt

J.-B. Pontalis, edition diskord, Tübingen, S. 61- 62

Vor Jahren traf ich eines Abends bei Freunden Roland. Er war dabei, Frankreich für eine lange Zeit zu verlasse und deponierte einige Gemälde bei ihnen. Eines davon befand sich in der Ecke des Raumes, in dem wir assen, direkt auf den Boden abgestellt. Roland war ein wenig trübsinnig, die Unterhaltung – der Wein tat ein übriges – lbhaft, um das Unbehagen des Abschieds besser zu überdecken. Mein Blick wurde in kurzen Abständen und nach und nach ganz von der Leinwand gefangengenommen. Ich hörte das Lachen, steuerte meinen Teil dazu bei, doch inmitten jener unvorhersehbaren Beweglichkeit, die die Ausgelassenheit einer Konversation ausmacht, nahm der Impuls Gestalt an, schlich sich die fixe Idee ein: ich will es haben! Etliche Stunden später lief ich den Boulevard St. Germain hinauf und versteckte das Bild unter meinem Mantel. Ich hatte Roland den Preis, den er verlangte, gezahlt, er hatte mir die üblichen Worte gesagt: wie glücklich er sei, dass ich an seiner Malerei Gefallen finde etc. Nichtsdestotrotz floh ich wie ein Dieb.

Körper und Trauma? Über das Verhältnis von body art und sexueller Differenz


In ihrer Arbeit Schnitt in den Körper. Von der Klitoridektomie bis zur Body Art beschreibt Renata Salecl die Kliterodektomie – den herrschenden, westlichen Einstellungen gegenüber ganz überraschend, was diese deshalb nicht gegenstandslos machen muss – als einen Akt, als einen Schnitt in den Körper der Frau, der die sexuelle Identität der Frauen – wie natürlich auch der Männer – sichern soll. Diese sexuelle Identität ist nämlich – so ihr Diktum – ohne einen solchen kulturellen Eingriff und Einschnitt höchst unsicher.

Die zunehmende Erosion des grossen Anderen als Garanten der symbolischen Ordnung führe dazu, dass eine Eindeutigkeit der sexuellen Differenz immer weniger gegeben – in dieser Perspektive könnte man auch sagen: geschenkt – sei. Dies führe zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Körper als Material. Dies schlage sich einerseits in einer individualisieren Formung und Gestaltung des Körpers durch verschiedenartige Eingriffe wie Tattoos, Peircings, kosmetischen Operationen und im Experimentieren mit dem eigenen Geschlecht nieder. Zum anderen zeige sich diese Entwicklung in der Kuns mit der grossen Bedeutung, welche die Body Art gewonnen hat.