Zu "Die Toten" von James Joyce
im Erzählband "Dubliner", Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1989
25. Februar 2014
Ein junger Mann mittleren Alters kommt mit seiner Frau, mit der ihn ein nicht immer sehr straffes, aber doch starkes Band verbindet, zu einer Einladung seiner beiden nun wirklich schon älteren Tanten. Sie machen sich in aufgeregter, fast noch jungmädchenhafter Freude das jährliche Vergnügen, Persönlichkeiten und Freunde aus dem nicht allzu grossen Ort zu einem vorweihnachtlichen Essen mit Musik und Tanz einzuladen. Unser Freund ist den beiden Tanten schon seit Jahren Garant für das Gelingen des Festes. Er versteht es, aus einer gewissen Melancholie heraus, sich nicht nur der Situation und den Wünschen seiner Tanten mit Charme und Stil anzupassen, er weiss auch nicht nur die verschiedenen, unumgänglichen Peinlichkeiten eines solchen Anlasses elegant und gelegentlich bestimmt zu meistern, er ist auch gleichzeitig ein bisschen aus einer anderen Welt: nicht nur, dass er von weit her anreist, er ist auch durch seine Beschäftigung mit Kunst und Literatur, durch seinen dadurch etwas übergeordneten Standpunkt dem Alltag und seinen Zwisten, ja seinen kleineren und grösseren Kämpfen im täglichen Leben wie auch in der Politik enthoben. Das macht ihn natürlich zum Augenstern seiner Tanten, die ihn freudig und sehnlichst erwarten: wenn er da ist, kann nichts mehr schief gehen.
Dieser so glänzende, bestätigende Blick auf ihn, der ihm ganz sicher auch etwas von Jugend und Unbeschwertheit gibt, überdeckt ihm freilich nicht ganz kleine Momente von Brüchigkeit. Die Begegnung mit einem Mädchen, das den Tanten im Haushalt hilft, und auch wirklich noch ein Mädchen ist, scheint plötzlich eine Spur von Sehnsucht nach diesem Mädchenhaften, nach dieser Jugend aufblitzen zu lassen, die ihn irritiert und ein bisschen verschämt, weil es das Mass dessen, was da so getragen und eingebettet ist, ganz kurz, ganz plötzlich und ungeahnt zu durchbrechen scheint.
Später taucht eine junge Frau auf aus früheren Zeiten auf, umgarnt ihn ein wenig und schiesst plötzlich spitze Pfeile, wiederum unerwartet und aus fast heiterem Himmel, auf ihn, indem sie ihn der Ignoranz in einer gemeinsamen politischen Angelegenheit, einer res publica, bezichtigt, was ihn ganz hilflos werden lässt. Er spürt, dass es nicht nur um die Liebe zu dieser res publica, sondern um eine andere, eine enttäuschte Liebe geht.
Ein bisschen droht ihm dann sein jährlicher, besinnlicher und geistreicher Toast zu Ehren seiner Tanten in Unsicherheit und ins Flattern zu geraten. Doch er schafft es, wird nicht gebeutelt durch die Irritation und die kleine Böe, die sie ausgelöst hat. Der Abend, das Fest verläuft zur Zufriedenheit.
Beim Aufbruch der letzten Gäste schliesslich – man steht schon im Entrée – tönt wie von weither die Stimme eines Sängers, der nun doch zu später Stunde und fast ein wenig verstohlen, trotz seiner Heiserkeit und Indisponibilität ein altes Lied angestimmt hat. Man lauscht den Tönen. Und in diesem Moment taucht ebenso wie von weither seine Frau oben auf der Treppe auf. Sie ist, lauschend und versunken, voller Anmut und Grazie. Und er schaut und schaut und seine Augen werden voll von ihr. Szenen einer Liebe ziehen von diesem Gefühl beseelt an ihm vorüber. Und er freut sich darauf, mit ihr allein zu sein.
Als sie dann endlich allein sind, erscheint sie ihm noch schöner. Und er sucht, diese Stimmung, dieses Glück mit ihr zu teilen. Sie kommt ihm entgegen und doch nicht. Sie beginnt zu weinen. Das Lied hat sie gerührt.
Es war das Lied, das ihr ein Jüngling immer gesungen hatte, der in sie verliebt war. Und sie in ihn. Sie waren miteinander spazieren gegangen und hatten sich in die Augen geschaut. Sehnsüchtig, melancholisch. Und er, dieser Jüngling, war für seine Liebe zu ihr damals gestorben.
Durch das Lied aus weiter Ferne war sein Bild ihr wachgerufen, war ihre sehnsüchtige Liebe zu ihm wieder belebt worden. Und unser Freund stand da. Zunächst zornig, dann traurig, dann demütig. So war es. Und er begann, sie auf eine neue Art zu lieben.
Die Geschichte ist von James Joyce: Die Toten. Aus dem Erzählband Dubliner. Sie ist traurig, nicht sentimental und schon gar nicht tröstlich. Sie setzt einen Punkt. So ist es. Unumstösslich und ohne Pathos. Einen Punkt, der gesetzt ist. Keinen Schlusspunkt. Im Gegenteil: alles ist offen. Doch so offen, dass es nicht darum geht zu rätseln, wo es weiter geht. Es geht weiter. Fängt erst jetzt wieder an. Jetzt, wo und obwohl der Punkt gesetzt ist.
In dem Moment, in dem unser Freund, er heisst Gabriel, seine Verliebtheit wieder entdeckt, in dem Moment tauchen nicht nur all die Reminiszenzen an die früheren Szenen wieder auf, in dem Moment, in dem er ganz stark bei ihr ist, in dem er sie berühren, in dem er sie streicheln und umarmen, in dem er sie zu sich nehmen möchte, in dem Moment ist sie weg. Ist sie bei einem anderen. Ist sie bei dieser ersten unglücklichen?, glücklichen? Liebe. Und diese Liebe, die ja ihrerseits eine verlorene ist, diese Liebe lässt sie anmutig werden, lässt sie grazil werden. Versetzt sie in den Glanz einer Schönheit, die eben auch seine Liebe wieder entflammt. Die Szene verdoppelt sich: seine Liebe zu ihr wird entflammt durch ihre Liebe. Durch ihre Liebe zu dem Freund der Jugend, dem Toten. Der freilich nicht tot, sondern durch sein Tot-Sein umso lebendiger ist. Seine Vergänglichkeit macht ihn präsent.
”Die Luft im Zimmer liess ihn an den Schultern frösteln. Er streckte sich vorsichtig unter die Betttücher und legte sich neben seine Frau. Einer nach dem anderen wurden sie alle zu Schatten. Es war besser, kühn in jene andere Welt hinüberzugehen, in der ganzen Glorie einer Leidenschaft, als kläglich vor Alter zu schwinden und zu verwelken. Er dachte daran, wie sie, die neben ihm lag, so viele Jahre lang das Bild der Augen ihres Liebhabers in ihrem Herzen verschlossen hatte, als er ihr gesagt hatte, dass er nicht mehr leben wolle.
Grossmütige Tränen füllten Gabriels Augen. Er hatte keiner Frau gegenüber je Ähnliches empfunden, aber er wusste, dass solch ein Gefühl Liebe sein musste.“ (J.Joyce, 1989, S. 228)