Das Ende der Hysterie und wie sie weitergeht.

Panel mit Elisabeth Bronfen und Andre Richter an der Veranstaltung von The Missing Link zum Thema "Disoziationen Asoziationen – und umgekehrt. Hysterie nicht mehr an der Quellenstrasse. Helferei Grossmünster, Zürich, Samstag, den 7. Mai 2022

9. Juni 2022

Die Hysterie gibt’s nicht mehr, sie kommt nicht mehr vor. Hat es sie eigentlich je gegeben? Wie ist denn ihr Status in Bezug auf das, was es gibt oder nicht gibt? Wie ist ihr Status in Bezug auf das, was man Realität und Wirklichkeit nennt?

Dieser Status ist ein sehr spezifischer und interessanter. Er verweist nicht nur auf das Suchen, auf das Wandern der Hysterie – und des Uterus im griechischen Verständnis, des Uterus, der ja immerhin die Gebärmutter ist, also der Ort, an dem etwas geboren wird, an dem etwas entsteht, der natürlich ein weiblicher Ort ist, keine Frage, aber eben: vielleicht auch nicht einfach ein weiblicher, vielleicht auch ein männlicher, vor allem aber ein Ort, an dem sich die Frage von Mann und Frau neu und anders stellt . Und mit dem Suchen, das ja eines ist, das nicht einfach ankommt, das kein Endziel hat, verweist die Hysterie immer auch auf etwas Unbestimmtes, auf etwas nicht Fassbares, das ständige Aufgabe gibt, das ständige Arbeit gibt – Freud hat ja den Trieb als Arbeit an den psychischen Apparat bestimmt.

Dieser Aspekt des Unbestimmten, des Unfassbaren ist schon im Bruchstück einer Hysterie-Analyse ganz zentral. Einerseits im Bruchstück, das die Analyse immer schon als eine von Bruchstücken ausweist, die eine Tendenz haben ein Ganzes zu suchen und zu konstruieren, dieses gleichzeitig ständig dekonstruieren und wieder in Frage stellen werden. Also einerseits ist dieses Unbestimmte im Bruchstück gegeben, andererseits in der Verbindung mit den zwei Träumen, von denen da die Rede ist. Letztlich geht es ihm auch darum, die Bedeutung des Traums für das Verständnis der Hysterie zu erweisen. Und der Traum ist ja eine psychische Produktion, die ganz zentral auf etwas Unbestimmtes verweist, auf diesen Nabel des Traums, den man mit der Mutterbrust in Verbindung bringen kann, womit aber schon klar ist, dass es sich dabei nicht um eine konkrete Brust handelt, auch wenn es immer eine solche ist. Auch die – das ist ja entscheidend – geht immer schon über sich hinaus.

Dieses Über-sich-Hinausgehen ist ja entscheidendes Moment der Hysterie. Man kann das an der Konversion sehen, in der sie zu Körper wird, in der Phantasie zu Körper, Phantasie zu Wirklichkeit wird.

Man kann das aber auch an der Szenerie in der Salpetrière mit Charcot sehen – den Freud ja besucht und studiert und übersetzt hat, auch in verschiedener Hinsicht. Wenn man an diese Vorführungen denkt – die man natürlich als diskriminierend und entwertend verstehen kann, wenn man das will –, dann ist es ja so, dass die Hysterikerinnen für Charcot etwas in Szene setzen und dabei – man denke nur an all die körperlichen Verrenkungen, beispielsweise diesen hysterischen Bogen – ständig über sich herausgehen, sich verbiegen, sich verformen und ihm dabei das schenken, was er gerne haben möchten: Ein anderes Verständnis von Hysterie, einen anderen Blick auf die Pathologie, auf die anderen und fremden Erscheinungen, die sich ihm da bieten. Sie bieten sie ihm. Und er geht auch ganz über sich hinaus, stellt eine faszinierende Theorie auf, die Freud angesteckt hat, der ja in den Studien über Hysterie dann seine Salpetrière auf die Bühne der Wissenschaft gebracht hat. Charcot und die Hysterikerinnen, wer ist da wer, wer hat es, wer hat es nicht? Wer hat das Wissen, wem ist das Wissen, wem ist der Phallus und wem nicht? Das ist keine einfache Frage. Das ist eine Frage, die sehr unbestimmt bleibt und zwar letztlich nicht deshalb, weil die Frage der Subjektivität, die Frage des Subjekts nicht einfach auf der einen oder auf der anderen Seite liegt, sondern weil es sich um ein Geschehen handelt, in dem ständig Subjektivität produziert wird, als das Unterworfensein unter etwas Anderes, das eben nicht bestimmt ist, das nicht fassbar ist.

Es geht um eine Disposition, die Freud den Wunsch, den libidinösen Wunsch, Lacan das Begehren genannt hat, die eben unbestimmt sind, die nicht einfach fassbar sind, die – wenn man an das 7. Kapitel der Traumdeutung denkt – auch in dem Sinn nicht fassbar sind, dass dieser Wunsch einer ist, der nicht erfüllbar ist, der im Zeichen der Unerfüllbarkeit steht.

Dann wieder zu Dora und der Wiederholung der Charcot’schen Szenerie. Auch Freud will dieses Alles, die Hysterie ganz aufklären, sie zu einem Endpunkt bringen – gar nicht unähnlich wie er es beim Traum der Fall ist. Seine Enttäuschung liegt auch dort, dass die Verheissung, die Verführung, die zu Beginn der Analyse steht, nicht aufgegangen ist. Sie hat ihm doch das ganze Material geliefert, das er sich gewünscht hat. Bis sie ihm gesagt, bzw. gezeigt hat – womit wir auch da schon eine Konversion haben, mit der Ohrfeige, die gar keine war und doch eine war –, dass es eben eher Nicht-Alles ist. Daran hat er zu knabbern gehabt – was ihm ja nicht zu verdenken ist.

Zu sagen, dass diese Art von Dora, ihm da alles geben zu wollen und zu geben, eine der Unterwerfung ist, ist sowohl richtig wie auch falsch. Richtig in dem Sinn, dass auch sie diesem Wunsch unterworfen ist, ihm alles zu sein und ihm alles zu geben, falsch ist es, dass es sich dabei einfach um eine Unterwerfung unter ihn und seine Macht handelt. Es ist ja zudem eine Macht, die sie ihm überhaupt erst gibt. Es ist eine Macht, die ständig wandert, hin und her geht, die – was sich da zeigt und das ist ja das Interessante für die Situation, die wir mit dem PSZ hatten – eben gar nicht zu haben ist und jeder Versuch, sie festzulegen gar nicht anders kann als zu scheitern – was für ein Glück.



Bei all den Konversionen und Wanderungen und Verkleidungen und Metamorphosen stellt sich natürlich die Frage des Verrats. Sie ist immer woanders, die Hysterie, wo also und wer also ist der Verräter? Ist es Dora, ist es Freud? Sind wir es? Natürlich sind wir es, natürlich ist es der Missing Link, weil er eben die Leerstelle ist, weil er immer schon woanders ist, weil nie einfach dort ist, wo er sein sollte. Dora war auch woanders, der Traum ist woanders, beide lassen sich nicht gänzlich aufklären, lassen sich nicht unter das Alles subsummieren. Aber da geht es dann gleich auch weiter: Wie nämlich steht es mit dem Verrat? Ist der wirklich so gefährlich? Ist er wirklich diese Bedrohung? Natürlich ganz unzweifelhaft ist er das, aber ebenso unzweifelhaft ist er das nicht, weil er der Agent ist – gar nicht unähnlich wie der Traum – weil er der Agent ist des Neuen und des Anderen. Wie stehen wir zu den Whistleblowern? Sollen Sie ins Gefängnis, wie damals Galilei, der ja heute noch auf der Bühne steht?

Wir sind doch den Whistleblowern dankbar, wir sind doch Edward Snowden dankbar, dass sie uns sagen, was da drinnen passiert, was da hinter verschlossenen Türen passiert, welche Spiele da getrieben sind. Wo ist die Gefahr? Was ist da hinter dem Schlüsselloch, wer treibt es miteinander, wer wird da ausgeschlossen? Das ist doch spannend, das sind Krimis. Agenten sind immer Doppelagenten, das macht die Sache spannend und stellt die Identitäten immer in Frage und löst sie ständig auf. So gibt es Neues und Anderes.


Es gibt sie kaum mehr, die Hysterie. Aus ihr ist die histrionische Persönlichkeitsstörung geworden. Da wurde also aus ‘y’ ein ‘i’. Da scheint mir ihr etwas weggenommen zu haben, kein Wunder ist sie auf der Suche. Aus dem ‘y’ ist ein ‘i’ geworden. Dieses ‘i’ ist auf jeden Fall gradliniger und es hat zudem auf diese Gradlinigkeit noch einen Punkt gesetzt. Diese Gradlinigkeit erlaubt wahrscheinlich die geeignete Behandlung.

Und wenn aus dem ‘y’ ein ‘i’ geworden ist, geht der Scheideweg verloren. Und damit der Bezug zu diesem Konflikt, der für Freud so wichtig und zentral gewesen ist, mit dem er sich von der griechischen Tragödie anstecken liess. An diesem Scheideweg hat Ödipus seinen Vater Laos erschlagen – anschliessend seine Mutter Iocaste geheiratet. Laos hatte ihn ausgesetzt, weil das Orakel ihm gesagt hat, dass sein Sohn ihn umbringen würde. Deshalb musste er weg, war er nicht mehr existent und dieser Nicht-Existenz erst recht existent, wie man ja weiss – da hatten wir sie auch schon die Hysterie, ihre Wanderung ihre Nicht-Existenz, die sich zur Existenz aufwirft.

Laos war da möglicherweise etwas zu gradlinig und hat die verschlungenen Wege der Hysterie, ihrer Scheidewege und ihres ‘y’ nicht gewollt. So wurde das ‘y’ zum Verrat an der Gradlinigkeit – und natürlich auch umgekehrt. Und zeigt weiter, was wir schon angedeutet haben, dass die Hysterie nicht einfach eine der Frauen ist, sondern ebenso eine der Männer. Sie ist ein Scheideweg mit zwei Gabelungen, bei denen man ja nie weiss, welche die richtige ist, bei der man vor allem eines lernen könnte, dass es dieses Richtige gar nicht gibt, dass es sich immer als Falsches herausstellen kann. Da wird also die Gradlinigkeit verdoppelt und vielleicht nicht nur verdoppelt, sondern vervielfältigt.

Das alles kann man zudem an Dora sehen, dass es da schon nicht diese Eindeutigkeit gab, die sich Freud durchaus gewünscht hat, auch da war es nicht eindeutig der Mann, der Vater oder die Frau oder die Mutter. Das hat sich verdoppelt und ständig verkehrt.

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