Mundschenk – Nundraub
Die Erotik des Mundraums und seine Wahrheit.

in: Uta Ruhkamp, Hartmut.Böhme und Beate Slominski (Hg.): In aller Munde. Das Orale in Kunst und Kultur. Katalog der Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg, Hatje Cantz, 2020, S. 252 - 255.

28. Dezember 2020


Eng umschlungen, Mund auf Mund, beinahe schon Mund in Mund, wiegen sie hin und her, geben Geräusche von sich, es stöhnt – Marina Abramovic und ihr Partner Ulay inszenieren 1977 in Belgrad Breathing In / Breathing Out. Beide hatten sich die Nasenlöcher mit Zigarettenfilter verstopft – es ging nur um den Mund – und atmeten so immer nur das ein, was der andere ausatmete. Je mehr sie Kohlendioxyd und je weniger sie Sauerstoff ein- und ausatmeten, begannen sie zu schwitzen, zu stöhnen, benommener zu werden, sich heftiger und wilder zu bewegen, bis dieser Kampf kurz vor der Ohnmacht mit dem Abbruch zum Höhepunkt der Performance wurde.

Der Mundraum wurde in dieser Aktion zum Ort eines existenziellen Austauschs, eines grundlegenden Angewiesenseins auf den Anderen. Das Einatmen wird zum Ausatmen, der Odem als Lebenselixier strömt gleichzeitig ein und aus, die Grenzen zwischen den Beiden lösen sich auf. Abramovic formulierte diese Dynamik in Bezug auf das Publikum so – was ganz offensichtlich erst recht für den Energieaustausch mit Ulay galt, ihrem damaligen Partner: »Ich hatte niemals ein Interesse daran zu schockieren. Mein Interesse bestand darin, die physischen und mentalen Grenzen des menschlichen Körpers zu erreichen. Diese Grenzen wollte ich gemeinsam mit dem Publikum erfahren. Ich könnte das niemals allein vollbringen. Stets brauche ich ein Publikum als Zuschauer, da dieses einen Energie-Dialog erzeugt. Man kann eine immense Energie vom Publikum bekommen, die über die physischen und geistigen Grenzen trägt.« Das ständige Hin und Her von Geben und Nehmen, von Verausgabung und Vereinnahmung wurde von beiden zudem akzentuiert, indem sie dieselbe Performance wenige Monate nach Belgrad in London unter dem umgekehrten Titel wiederholten: Breathing out / Breathing In.

Solche ständige Umkehr wird damit zum Zeichen des gegenseitigen Austauschs, vor allem aber der Inspiration in der Kunst und im Leben. Die Einnahme wird zur Verausgabung, die Ausgabe zur Vereinnahmung, die Vermischung von Rezeption und Ausstülpung findet im Mundraum nicht nur statt, sie vollzieht sich in ihm, gehört zu ihm. Offensichtlich ist dabei weiter, dass diese Inspiration durchaus erotischen und sexuellen Charakter hat. Das Ineinander der Münder ist auch eines der Körper, das Stöhnen und immer heftigere Bewegen sind ebenso wie die sich abzeichnende Ohnmacht orgiastisches Geschehen.

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